Was ist die gesunde Lebenserwartung?
Die gesunde Lebenserwartung, international als Healthy Life Years oder HLY bezeichnet, ist ein statistischer Indikator, der angibt, wie viele Jahre eine Person voraussichtlich in guter gesundheitlicher Verfassung leben wird. Dabei wird gute Gesundheit als Abwesenheit von Funktionsbeschränkungen und Behinderungen definiert. Im Gegensatz zur klassischen Lebenserwartung, die lediglich die Gesamtanzahl der Lebensjahre misst, erweitert die gesunde Lebenserwartung dieses Konzept um eine qualitative Dimension.
Der Indikator beantwortet die entscheidende Frage, ob gewonnene Lebensjahre in guter oder in schlechter Gesundheit verbracht werden. Für die meisten Menschen dürfte die Anzahl der gesunden Lebensjahre wesentlich bedeutsamer sein als die gesamte Anzahl an Lebensjahren. Die gesunde Lebenserwartung wird nach der Sullivan-Methode berechnet und berücksichtigt gleichzeitig die Entwicklung von Mortalität, Morbidität und Beeinträchtigung.
In Deutschland beträgt die gesunde Lebenserwartung bei Geburt 68,5 Jahre für Frauen und 64,8 Jahre für Männer, wobei große einkommensabhängige Unterschiede bestehen. Bei 65-jährigen Menschen liegt die verbleibende gesunde Lebenserwartung zwischen etwa 10 Jahren und 18 Jahren, abhängig von verschiedenen Faktoren wie Bildung, Einkommen und Lebensstil.
Internationale Unterschiede bei 65-Jährigen
Die gesunde Lebenserwartung variiert erheblich zwischen verschiedenen Ländern. Schweden führt mit 13,9 gesunden Jahren ab dem 65. Lebensjahr die europäische Statistik an. Malta folgt mit 12,8 Jahren, Norwegen mit 12,5 Jahren, Italien mit 12,2 Jahren und Spanien mit 11,8 Jahren. Diese Spitzengruppe zeichnet sich durch leistungsfähige Gesundheitssysteme, hohe Lebensqualität und gute sozioökonomische Bedingungen aus.
Im Mittelfeld befinden sich Länder wie Griechenland mit 11,5 Jahren, Bulgarien mit 11,4 Jahren, Irland mit 11,2 Jahren, Frankreich mit 10,9 Jahren und Island mit 10,8 Jahren. Slowenien erreicht 10,6 Jahre, Zypern 10,4 Jahre, Portugal 10,3 Jahre, die Schweiz 10,2 Jahre und die Niederlande genau 10 Jahre. Deutschland liegt mit 9,8 gesunden Jahren ab 65 im europäischen Durchschnitt.
Die Unterschiede zwischen den Ländern können mehr als 5 Jahre betragen. Interessant ist, dass in 19 EU-Ländern Frauen mehr gesunde Lebensjahre zu erwarten haben als Männer, während in 7 Ländern Männer länger in guter Gesundheit leben. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 10 Jahren für Frauen und 9,6 Jahren für Männer.
Die wichtigsten Einflussfaktoren
Die gesunde Lebenserwartung wird durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren beeinflusst, wobei der individuelle Lebensstil und sozioökonomische Bedingungen deutlich wichtiger sind als die genetische Veranlagung.
Lebensstil als Schlüsselfaktor
Lebensstilfaktoren erklären etwa 15 Prozent der Unterschiede in der Mortalität. Nichtrauchen zeigt dabei den stärksten Einfluss auf die Lebenserwartung mit einer Hazard Ratio von 0,64, was bedeutet, dass Nichtraucher ein um 36 Prozent geringeres Sterberisiko haben als Raucher. Regelmäßige körperliche Aktivität folgt mit einer Hazard Ratio von 0,72, niedriger chronischer Stress mit 0,81, eine gesunde pflanzenbetonte Ernährung mit 0,78, ausreichender Schlaf von 7-8 Stunden mit 0,86 und geringer Alkoholkonsum mit 0,89.
Zusammen können diese direkt modifizierbaren Faktoren 4 bis 10 Lebensjahre bewirken. Menschen, die diese Empfehlungen befolgen, leben nicht nur länger, sondern verbringen auch deutlich mehr Jahre in guter Gesundheit. Die Kombination mehrerer positiver Lebensstilfaktoren hat einen synergistischen Effekt und verstärkt die positiven Auswirkungen.
Sozioökonomische Determinanten
Der sozioökonomische Status hat einen erheblichen Einfluss und erklärt 25 bis 30 Prozent der Unterschiede in der Lebenserwartung. Die finanzielle Situation, der Beschäftigungsstatus, das Einkommen und die Wohnungsgröße werden mit 19 verschiedenen Krankheiten in Verbindung gebracht – fast so viele wie durch Rauchen verursacht werden.
Ein ungelernter Arbeiter lebt durchschnittlich vier Jahre kürzer als ein Akademiker und hat ein zwölf Mal höheres Risiko, invalid zu werden. Bei Frauen beträgt die Differenz zwischen Universitätsabgängerinnen und Pflichtschulabsolventinnen 3,6 Jahre. Bei Männern der niedrigen Einkommensgruppe versterben 27 Prozent vor Vollendung des 65. Lebensjahres, während es in der höchsten Einkommensgruppe nur etwa 14 Prozent sind.
Bildung als größter Hebel
Bildung wird von Experten als der größte Hebel für die Lebenserwartung bezeichnet. Die Unterschiede sind dramatisch: Bei 25-jährigen Menschen beträgt der durchschnittliche Unterschied in der Lebenserwartung zwischen hohen und niedrigen Bildungsabschlüssen 8 Jahre bei Männern und 5 Jahre bei Frauen.
Noch ausgeprägter sind die Bildungsunterschiede bei der gesunden Lebenserwartung. In Ungarn zeigt sich ein extremes Beispiel: 30-jährige Männer mit niedrigem Bildungsabschluss können noch etwa 24 gesunde Lebensjahre erwarten, während gleichaltrige Männer mit hohem Bildungsabschluss noch fast 40 gesunde Jahre vor sich haben – ein Unterschied von 16 Jahren.
In Österreich zeigen 35-jährige Männer mit Hochschulabschluss eine Lebenserwartung von 84,2 Jahren, während Männer mit Pflichtschulabschluss nur 76,6 Jahre erreichen – eine Differenz von 7,6 Jahren. Bei Frauen liegt die Differenz bei 4,1 Jahren. Diese Unterschiede nehmen im Zeitverlauf sogar zu. In Österreich wuchs die Differenz zwischen höchster und niedrigster Schulbildung bei Männern von 6,3 Jahren im Jahr 2015 auf 7,6 Jahre im Jahr 2021.
Höhere Bildung ermöglicht einen gesünderen Lebensstil durch bessere Gesundheitskompetenz. Gebildete Menschen rauchen seltener, bewegen sich mehr, ernähren sich gesünder, achten auf ihr Gewicht und nutzen häufiger Vorsorgeuntersuchungen. Bildung wirkt zudem über höheres Einkommen, bessere medizinische Versorgung, qualitativ hochwertigere Lebensmittel, bessere Wohnsituation und geringere körperliche Arbeitsbelastung.
Die überraschend geringe Rolle der Genetik
Entgegen früherer Annahmen tragen genetische Faktoren nur einen marginalen Anteil von unter 2 Prozent zur Mortalitätsvarianz bei und sind gegenwärtig praktisch nicht modifizierbar. Dies bedeutet, dass die weit verbreitete Vorstellung, Langlebigkeit sei hauptsächlich vererbt, wissenschaftlich nicht haltbar ist.
Zunehmende Ungleichheit
Die bildungsbedingten Unterschiede in der gesunden Lebenserwartung nehmen im Zeitverlauf zu. In Dänemark vergrößerte sich zwischen 2010 und 2021 die Ungleichheit bei der Lebenserwartung ohne Aktivitätseinschränkungen um 2,4 Jahre bei Männern und 2,6 Jahre bei Frauen. Die Ungleichheit bei der Lebenserwartung ohne chronische Krankheiten stieg um 1,1 Jahre bei Männern und 1,2 Jahre bei Frauen.
Diese Entwicklung verstärkt soziale Ungleichheit über Generationen hinweg, da Menschen mit höherer Bildung nicht nur länger leben, sondern auch länger Rente beziehen und dadurch ihre Kinder wirtschaftlich besser unterstützen können. Bei 65-jährigen Menschen verringert sich der bildungsbedingte Unterschied auf durchschnittlich 3,5 Jahre bei Männern und 2,5 Jahre bei Frauen, bleibt aber statistisch hochsignifikant.
Handlungsoptionen und Prävention
Insgesamt können 35 bis 45 Prozent der Mortalitätsvarianz durch menschliches Verhalten, Lebensumstände und präventive Interventionen beeinflusst werden. Dies unterstreicht die enorme Bedeutung von Prävention und Gesundheitsförderung.
Die Europäische Union setzte sich im Rahmen der Europe-2020-Strategie das Ziel, die durchschnittlichen gesunden Lebensjahre um zwei Jahre zu erhöhen. Dieses Ziel wurde zwischen 2010 und 2020 mit einem Anstieg von 61,8 auf 64,0 Jahre erreicht.
Der Indikator der gesunden Lebenserwartung wird häufig herangezogen, um die Leistungsfähigkeit von Gesundheitssystemen zu bewerten. Er spielt eine zentrale Rolle bei der Beurteilung, ob die demografische Alterung mit einer Expansion der Morbidität, einer Kompression der Morbidität oder einem dynamischen Gleichgewicht einhergeht.
Fazit
Die gesunde Lebenserwartung ist ein aussagekräftiger Indikator, der über die reine Lebensdauer hinausgeht und die Qualität der Lebensjahre berücksichtigt. Die erheblichen Unterschiede zwischen Ländern, Bildungsgruppen und sozialen Schichten zeigen, dass gesundes Altern keine Frage des Zufalls oder der Gene ist, sondern maßgeblich von veränderbaren Faktoren abhängt.
Lebensstil, Bildung und sozioökonomische Bedingungen bestimmen zu einem großen Teil, wie viele Jahre wir in guter Gesundheit verbringen werden. Die zunehmende Ungleichheit stellt eine gesellschaftliche Herausforderung dar und unterstreicht die Notwendigkeit gezielter Präventionsmaßnahmen und Gesundheitsförderung, insbesondere für benachteiligte Bevölkerungsgruppen.
Die gute Nachricht ist, dass ein erheblicher Teil der gesunden Lebenserwartung durch eigenes Verhalten positiv beeinflusst werden kann. Nichtrauchen, regelmäßige Bewegung, gesunde Ernährung, ausreichender Schlaf und Stressmanagement können zusammen mehrere gesunde Lebensjahre bringen. Kombiniert mit verbessertem Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung könnte die gesunde Lebenserwartung in den kommenden Jahrzehnten weiter steigen.
Download Gesunde-Lebenserwartung.pdf.
Quellen
-Healthy life years (HLY) – Diabetes surveillance – RKI https://diabsurv.rki.de/Webs/Diabsurv/DE/diabetes-in-deutschland/4-38_Gesunde_Lebensjahre_HLY.html
-Gesundheitserwartung – Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Gesundheitserwartung
-Gesunde Lebensjahre https://fgoe.org/Glossar/Gesunde_Lebensjahre
-Gesunde Lebenserwartung: Ein kritischer Blick auf Nutzen und … – NIH https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11093867/

